Der FUTUREZWEI Zukunftsalmanach 2013. (Rezension)

Bücher, die mir erzählen, wie schrecklich die Welt ist und was wir, vor allem die Politiker/innen tun müss(t)en, um die Apokalypse abzuwenden, gibt es zuhauf. Harald Welzer, Stephan Rammler und ihre Mitautor/inn/en gehen einen anderen Weg. Sie erzählen »Geschichten vom guten Umgang mit der Welt«. 72 Geschichten des Gelingens von Einzelpersonen, Unternehmen, Stiftungen und Initiativen bilden den Hauptteil des Almanachs.

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Nun, auch das ist jetzt nicht soo neu. Spannend war für mich die Rahmung dieser Beispiele. Harald Welzer skizziert in seinem einleitenden Essay nicht nur die bekannten Eckdaten der weltweiten Probleme und Herausforderungen, vor der die Weltgemeinschaft angesichts von Klimaveränderungen, Ressourcenverschwendung, Fremdversorgungssystemen u.a.m. steht, sondern er sucht auch nach praktikablen Wegen der Veränderung. Allerdings setzt er nicht zuerst bei Forderungen an wen auch immer an, sondern fragt nach Möglichkeiten, konkret zu werden. Er plädiert hier für eine neue Kultur der Achtsamkeit, die einmal davon ausgeht, dass die Erfolgsrezepte des 20. Jahrhunderts nicht mehr für das 21. Jahrhundert gelten, die zugleich Fehlerfreundlichkeit und Reversibilität im Handeln als Leitlinie im Auge behält und somit möglichst große Handlungsspielräume eröffnet und die Entfaltung individueller Potentiale offen hält, um sie zum Nutzen aller einsetzen zu können. Achtsamkeit – ein gutes Leitwort, finde ich. Es findet in der Gegenwart an verschiedenen Stellen »Verwendung« (nicht nur bei Jon Kabat-Zinn) und ist vielleicht geeignet, als Leitbegriff für die Haltung der notwendigen Nachhaltigkeit zu dienen. Von diesem Moment begann das Essay in meinem Kopf an zu wirken. Aber es ging noch weiter.

»Bei all dem geht es nicht um Veränderung aus naturwissenschaftlich begründeter Notwendigkeit, sondern um Veränderung als kulturelle Herausforderung – und diese Veränderung macht Spaß, ist faszinierend und hat mit ›Verzicht‹ nichts zu tun. Es bedeutet ja nicht Verzicht, wenn man aufhört, sich seinen mentalen und physischen Bewegungsraum mit Produkten vollzustellen, die man nicht braucht, und wenn man aufhört, Sinnbedürftigkeit durch Kaufen zu befriedigen.« (44)

Einsatz für Nachhaltigkeit kann und soll Spaß machen – an dem Satz blieb ich hängen, und spätestens nun nickte ich innerlich. Hinter vielen Problemen steckt immer wieder die Grundfrage: Wie motiviere ich mich und andere, ins Handeln zu kommen? Ohne innere Motivation bleibt alle »Arbeit« zwanghaft und wird eher mit Widerstand oder aus schlechtem Gewissen heraus getan – oder der Impuls schlägt um in Rigorismus und Fanatismus, denn »man muss doch«… Eine Haltung der Achtsamkeit, die auch noch Spaß macht und fasziniert – da scheint mir ein Ansatz für Motivation drin zu liegen. Gut, dachte ich, mal gucken, was konkret nun kommt. Also las ich die zweiundsiebzig Beispiele, die in ihrer Unterschiedlichkeit einen Eindruck davon geben, wie die »Weltrettung« gelingen könnte und auch noch Spaß machen kann. Allerdings berichten diese Beispiele auch von Widerstand und Gegenwind, von Scheitern und Rückschlägen. Es ist keine rosarote Welt, die gezeichnet wird, es bleibt ehrlich.

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Als ich mit dem Kapitel durch war, dachte ich, was kommt denn jetzt noch? Schließlich hatte ich erst die Hälfte des Buches gelesen.
Zunächst folgt ein Abschnitt von Marcel Hänggi, der noch einmal begründet, warum die Welt anders werden muss. Er setzt sich mit dem heutigen Wirtschaftssystem und seiner Fixierung auf Konsum auseinander und geht insbesondere der Frage nach dem Verzicht nach. Er weist darauf hin, dass Verzicht immer mit Gewohnheit, mit Vorstellungen von Normalität zu tun hat – und wir nicht merken, auf was wir alles verzichten, weil wir z.B. der in den letzten Jahrzehnten rasant gesteigerten Mobilität sowohl in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht Lebensräume geopfert haben… Hänggis Beitrag endet denn auch mit der Aufforderung, die richtigen Fragen zu stellen, vor allem diese:

»Was bedeuten all die Wörter, die in den politischen Debatten lanciert werden, und wer hat die Definitonsmacht über sie – Wohlstand, Lebensqualität, Effizienz, Mobilität, Freiheit, Leistung usw. Wieso machen sich zunehmend Begriffe aus der Marketing- und Managementsprache im Alltagswortschatz breit? Sind das wirklich die Begriffe, mit denen wir über unser Leben sprechen wollen?« (300)

Gute Frage…

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Mobilität ist das Stichwort, das in diesem Buch schwerpunktmäßig in den Blick genommen wird. Daher folgt nun ein Essay von Stephan Rammler über die »Zukunftsbilder der Mobilität«. Und hier wurde es für mich endgültig hochspannend und anregend.
Rammler beschreibt zunächst den Traum von Mobilität, der sich in der Geschichte der Menschheit in der technischen Entwicklung widerspiegelt, von der Zähmung des Pferdes über das Rad und Segelschiffe bis zu Flugzeugen und dem sekundenschnellen Datenverkehr. Allerdings stellen wir eben heute fest, dass sich in den letzten Jahrzehnten mit der rasanten Nutzung fossiler Energieträger zwar unsere Mobilität extrem ausgeweitet hat und nun an Grenzen stößt. Das ist nicht neu, aber Rammler fragt nun nach neuen Geschichten, neuen Träumen und Erzählungen, die als Leitbilder der Zukunft gelten können. Selbstbeweglichkeit schlägt er als eines dieser Leitbilder vor:

»Individuelle Selbstbeweglichkeit entsteht in diesem Zukunftsbild durch die Verknüpfung sämtlicher bekannter Verkehrsträger und die Entwicklung vielfältiger Mobilitätsleistungen im Personen- wie im Güterverkehr. Statt Fahrzeuge zu besitzen, bezahlen wir beispielsweise zukünftig nur für ihren Gebrauch. Diese Haltung des Nutzens statt Besitzens ist erst aufgrund der datentechnologischen Revolutionen der vergangenen Jahre möglich geworden.« (311)

Okay, dachte ich, ein schöner Gedanke, aber wie bekomme ich mich und andere denn nun motiviert? Es soll doch faszinieren und Spaß machen, ich verstehe ja den Ansatz und finde ihn gut, aber…
Zum Glück hatte ich  immer noch hundertfünfzig Seiten vor mir und ich blätterte um. Da heißt es dann:

»Die zukunftsfähige Gestaltung von Mobilität wird (…) nur gelingen, wenn man es schafft, Bilder des Gelingens zu erzeugen und zu verbreiten – denn positiven Zukunftsbildern wohnt ein ungleich höheres individuelles und gesellschaftliches Veränderungspotential inne als apokalyptischen Warnungen.« (312)

Volle Zustimmung – aber wie? Antwort:

»Zukunftsbilder gelingender Transformation sollten (a) narrativ und emotional anschlussfähig, (b) hinreichend konkret und detailreich, (c) konstruktiv und positiv, dabei aber nicht unrealistisch sein.« (312)

Rammler knüpft hier an Christian Salmon an, der vom einem »narrativist turn« in Europa und den USA spricht und »storytelling« für ein geeignetes Mittel hält, Veränderungen einzuleiten. Vorstellbarkeit wird so mit Hilfe von narrativen Alltagsszenarien geschaffen:

»Im Wechselspiel von Vision und Gegenwärtigkeit gilt es, eine Art Vertrautheit mit dem Zukünftigen herzustellen und so die Bereitschaft anzuregen, selbst in dieses Wechselspiel einzutreten, mögliche Veränderungen gedanklich auszuprobieren und schließlich eine experimentelle Grundhaltung der Zukunftsoffenheit dauerhaft anzunehmen. (…) Denn Veränderung entsteht zunächst im Kopf: Dann nämlich, wenn wir gedanklich so tun, als wäre sie schon längst eingetreten.« (315)

Dieser Vorschlag hat in meinem Kopf für ein Feuerwerk von Gedanken geführt. Da ich selber schon länger über die Frage von Leitbildern und Visionen nachdenke und mich dabei beschäftigt, wie diese vermittelt werden können, löste die Idee, narrativ heranzugehen eine Vielzahl von Assoziationen aus. Ich dachte, wenn ich aus dem Satz von Seite 312 die Worte »von Mobilität« herausnehme und anderes einsetze – dann ist das immer noch wahr. »Die zukunftsfähige Gestaltung von Leben im Stadtteil, vom Leben in einer Kirchengemeinde usw. wird nur gelingen, wenn man es schafft Bilder des Gelingens zu erzeugen und zu verbreiten.« Spannender Ansatz, der auch gleich noch drei Kriterien (a-c) mitliefert, mit denen vorgegangen werden kann.
Vier Stunden Bahnfahrt und fünf Weihnachtsmärkte in Köln über beschäftigte mich dieser Vorschlag gestern intensiv, denn es gab genug Anschauungsmaterial sowohl für die Konsum- und Mobilitätsfragen als auch für die Möglichkeiten, mir hier und anderswo Zukunft auszumalen.

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Heute habe ich dann den Rest des Buchs gelesen. Es folgt noch eine Enzyklopädie von 2030, in der beschrieben wird, wie wir dann (vielleicht) über Autos, Flugzeuge, Schifffahrt, Immerläufer und Städteplanung – also über Mobilität – denken. Und es werden noch Geschichten von Mike, Ella, Basma und Lio erzählt, deren Wege sich (buchstäblich) im Jahr 2051 kreuzen. In dem Jahr werde ich (wenn ich es erlebe) neunzig und wenn das mit dem Verkehr so aussehen sollte, wie dort beschrieben, ich fänd´s nicht schlecht – da käme ich wohl zur Not auch mit dem Rolator noch zurecht und vielleicht sogar besser, als manche/r Senior/in heute.

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Alles in allem: Für 16,99 € habe ich eine Menge geboten bekommen. Schon lange habe ich kein Buch von vierhundert Seiten mehr in drei Tagen gelesen. Es hat sich gelohnt.

2 Gedanken zu “Der FUTUREZWEI Zukunftsalmanach 2013. (Rezension)

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