Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen …

Ralf-Peter Reimann hat in dieser Woche einige Gedanken unter der Überschrift: „Diskret sterben“ gebloggt. ( http://theonet.de/2014/02/06/diskret-sterben/ ) Der Beitrag geht aus von der Website Henning Mankells ( http://henningmankell.com/news/henning-mankell-about-his-cancer/ ), der dort seine Erfahrungen mit der ausgebrochenen Krebserkrankung beschreibt. Reimann kommentiert:

„Wir sind dicht dran, wir spüren Mankells Unsicherheit, ich frage mich, wie wird er weiter schreiben? Gute Nachrichten, dass er den Krebs in Griff bekommt, werden leicht von der Hand gehen, was aber, wenn die Krebserkrankung sich als unheilbar erweist? Wird er das dann auch schreiben? Wie wird er sich verabschieden, wenn er nicht mehr schreiben können wird? Werden wir sein Sterben online mitverfolgen können. Werde ich so zum Voyeur?
Warum sonst will ich über Mankells Krankheit lesen und er darüber schreiben? Zum Voyeurismus der Leserinnen und Leser korrespondiert auch ein Narzissmus des Bloggers oder der Bloggerin, die über ihre Krankheit schreiben. (…) Der Verlust gesellschaftlicher Trauerrituale hat natürlich nichts mit der Entstehung und Verbreitung des Internets zu tun, aber das Internet ermöglicht eine Nähe und Distanzlosigkeit, die es vorher nicht gab. Wenn ich online lese, wie Mankell gegen den Krebs kämpft, ist der Ausgang noch offen. Ich kann mit ihm zittern und hoffen. Ich bin quasi live dabei. “

Reimann macht den für ihn entscheidenden Unterschied an den Tagebuchaufzeichnungen von Maxi Wander deutlich, die einst von ihrem Mann nach ihrem Tod veröffentlicht wurden:

„Natürlich sind Maxi Wanders Tagebuchaufzeichnungen persönlich — aber sie sind diskreter, weil der Ausgang des Geschehens für den Leser feststeht. Reflexion, nicht Voyeurismus oder Narzissmuss bestimmen mein Lesen.“

Diese Sicht ist mir zu einseitig und fordert mich zum Widerspruch heraus.

Sterben ist in den letzten Jahrzehnten vermehrt aus dem privaten Raum verdrängt worden. Als Gemeindepfarrer werde ich selten zu Menschen vor Ort gerufen, die im Sterben liegen. Mir begegnen immer wieder Menschen Mitte, Ende zwanzig, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Tod in der Familie oder im Freundeskreis konfrontiert werden. Ich spüre dann oft eine große Hilflosigkeit. Familien werden kleiner, die Lebenserwartung steigt, der Tod tritt im Krankenhaus oder Seniorenheim ein, selten zuhause, noch seltener im Beisein der liebsten Menschen in den eigenen vier Wänden.

Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber Sterblichkeit, der verwelkende Leib, beides passen nicht zur Körperkultur in der Gegenwart, in der Schönheitsoperationen schon an Kinder und Jugendlichen vollzogen werden. Daher finde ich zunächst nichts Schädliches daran, wenn Menschen sich dafür entscheiden, ihren Krankheits- und/oder Sterbeprozess öffentlich zu machen. Im Gegenteil, ich sehe hier auch einen Protest gegen den Gesundheits- und Schönheitswahn.

Ich kann darin auch nicht zwangsläufig Voyeurismus erkennen, vielleicht eher eine Sehnsucht nach Echtheit in einer zunehmenden künstlichen (Körper-) Welt. Sind nicht viele auf der Suche nach Vorbildern im Sterben, weil sie es selber nie gelernt, nie selbstverständlich, „nebenbei“ miterlebt haben? Und ermöglicht der mir nicht so nahe stehende Mensch mit seiner Offenheit vielleicht eine Annäherung, die weniger stark meine Ängste wachruft als der Gedanke ans eigene Sterben oder das meiner Liebsten?

Eng verbunden ist dieser Gedanke für mich mit der Tatsache, dass wir Menschen auf Kommunikation aus und auf sie angewiesen sind. Gerade in kritischen Lebenssituationen machen viele Menschen aber die Erfahrung, dass sich Freunde, Nachbarn, ja Familienmitglieder zurückziehen – aus Angst, aus Unsicherheit. Wie oft habe in Beerdigungsgesprächen die Bitterkeit aus den Erzählungen der Hinterbliebenen herausgehört. „Seine besten Freunde haben ihn nicht einmal besucht.“  Vielleicht ist der Versuch, über das – „unpersönlichere“? – Netz diese Erfahrung weiterzugeben, zu teilen, auch ein Wunsch nach Kommunikation. Der Wunsch nach Rückmeldungen. Unterstützenden Worten. Nach „Mit-Leid“ im besten Sinn des Wortes.

Und was heißt hier unpersönliches Netz? Mit manchen Menschen stehe ich in einem engeren, persönlicheren Kontakt über die Datenleitung als mit Menschen in meiner direkten Umgebung. Sollen diese nicht teilhaben können an meiner Geschichte, die ich erlebe und erzählen möchte?

Noch einmal umgekehrt schützt diese Offenheit des Umgangs mit der eigenen eventuell tödlichen Krankheit vor verletzenden Reaktionen (aus Unsicherheit) oder zu bedrängenden, zu häufigen Nachfragen (aus echtem Mitgefühl). In meiner Stadt hat gerade ein Pastoralreferent der katholischen Nachbargemeinde seine Krebserkrankung über Facebook öffentlich gemacht. Ganz bewusst, um Gerüchten zu wehren. Und vielleicht, um die selbe Geschichte nicht tausendmal erzählen zu müssen.

Oder: In diesen Tagen hat Alexander Lasch angefangen, die höchstwahrscheinlich tödliche Erkrankung seines kleinen Sohnes in einem Blog zu veröffentlichen. http://biglewinski.wordpress.com/ Gleichzeitig lässt er seinen Sohn twittern unter: @big_lewinski. Als ich das auf Facebook kommentiere, erhalte ich folgende Antwort:

Lasch

Ich verstehe das gut, so weit man das als Außenstehender verstehen kann. Und finde es trotzdem mutig, weil sich ein Mensch hier sehr verletzlich zeigt. Aber in diesem Mut zeigt sich eine Stärke des Netzes: Ich erreiche mit einem Posting tendenziell viel mehr Menschen als über die Begegnung vor Ort. Anders gesagt: Von der Geschichte Alexanders Lasch´s hätte ich ohne Facebook nie erfahren, wir kennen uns „nur“ über die Datenleitung. Und die Reaktionen sind vielleicht verzögerter, was auch kein Schaden sein muss. In der direkten Begegnung schrecken viele Menschen zurück, verstummen oder retten sich  in Platitüden: „Da kann man nix machen, da muss man durch!“ Und verletzen so ungewollt ihr Gegenüber …

Die Gefahr des Voyeurismus besteht allemal. Aber nicht nur im Netz. „Haben Sie schon gehört, die Frau Müller hat jetzt auch Krebs …!“ „Nein!! Die war doch immer so gesund. Das MUSS ich gleich Ilse erzählen, das glaubt man ja nicht!“

Ralf-Peter Reimann stellt mit Nick Baines am Ende die These auf, dass hier Fragen der Menschenwürde betroffen sind. Das wird nicht weiter ausgeführt. Ich versuche es mal, weil ich dem zustimme, aber nicht uneingeschränkt.

Auch das Bedürfnis nach Kommunikation, nach Gesehen- und Wertgeschätzt-Werden ist Teil der Menschenwürde, auch am Ende unseres Weges. Diskret sterben, ja, ganz am Ende glaube ich auch, das dies in einem geschützten – privaten – Raum geschehen sollte, um der „Heiligkeit“ des Moments gerecht zu werden. Es gibt Dinge in unserem Leben, die im Rahmen der Zweisamkeit, der Familie oder im engsten Kreis der mir vertrauten Menschen stattfinden sollten – oder auch ganz allein. Nicht wenige Menschen „entscheiden“ sich den letzten Atemzug zu tun, wenn ihre Angehörigen gerade mal einen Moment das Zimmer verlassen haben. Wo dieser letzte Abschnitt des Wegs für einen Menschen beginnt, ist wohl nur individuell zu bestimmen. Es wird auch hier Einzelne geben, die sich vorstellen können, die Webcam auch dann nicht abzuschalten. Mag sein, ich glaube aber, dass die allermeisten Menschen mit ihren Angehörigen in der Regel ein gutes Gespür für den rechten Moment haben, die Zimmertür zu schließen, Mikrofone und Kameras abzuschalten.
Aber vor diesem Moment kann das Internet mit seinen Möglichkeiten Chance und Fluch gleichermaßen sein und somit in die praktische Auslegung von Psalm 90,12 aufgenommen werden:

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden.“

So hat Martin Luther vor langer Zeit diesen Vers, gerade teilweise ausgewählt als Kirchentagslosung, in unsere Sprache übertragen. Andere übersetzen: Lehre uns, unsere Tage zählen, auf dass wir ein weises Herz erlangen (zum Beispiel die Bibel in gerechter Sprache). Klug werden, eines weises Herz erlangen, vor dieser Aufgabe stehen wir Tag für Tag. Und Paulus hat dazu den Schlüssel gegeben: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (Erster Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, 5,21)

3 Gedanken zu “Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen …

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